Nun ist auch die letzte, bedeutsame Fashion Week für die kommende Herbst/Wintersaison 2023 vorbei und was uns bleibt sind Überdimensioniertes und blass machende Farben. Zusammen stehen sie für eine allgemeine Überforderung; für Aufgaben, denen wir uns nicht gewachsen fühlen. Aber wenn wir das Phänomen als Modetrend akzeptieren können, sind wir schon einen wichtigen Schritt weiter.

Passend zur Mode liefen die Models in Paris sehr blass geschminkt, teilweise mit glänzenden oder gar dunkel nachgefärbten Augenringen (Y/Project) über den Laufsteg. Das Gute bei so viel düsterer Stimmung: Die Designer konstruieren mehr Neues Es entstehen neue Schnitte und Formen. Die Paris Looks 2023 sind so spannend wie lange nicht mehr.

Man muss sich seiner Sache sehr sicher sein, wenn man ein schmal fallendes Satinkleid in Cremeweiß so ausgeleuchtet zur Schau stellt. Victoria Beckham kann sich das leisten. Sie demonstriert ein weiteres Mal, dass sie ganz vorne mitspielt. Dieses Kleid sitzt nach 2023-Standards perfekt mit all seinen Raffungen und riskanten Schnittführungsmanövern.

Aus irgendeinem Grund zeigten die Designer dieses Jahr lauter Carmen-Ausschnitte, die aber von Hochgeschnittenem gehalten werden und richtig fromm daherkommen. In den meisten Fällen sieht das leider nicht gut aus und man kratzt sich unweigerlich an der Schulter. Auch der Bewegungsraum scheint eingeschränkt. Immerhin sieht es beim Perfektionisten Hermès gut aus.

Wenn man mich fragt, welches eine Teil man sich für 2023 zulegen sollte, lautet meine Antwort: ein weißes Hemd mit extra langen Ärmeln und großen Manschetten, eventuell auch einen extra großen Kragen. Bei Valentino sah man das Hemd zu fast allem: zum Jumpsuit, zum Mini- und Maxirock, zu Shorts, zu Federn und Pailletten. Diejenigen unter Euch, die die Serie 'Wednesday' schauen, sahen es kommen.

Das Futter unserer Kleidungsstücke spielt immer wieder eine Rolle bei den kommenden Herbst/Winterkollektionen. Da ist es z.B. einmal in starker Kontrastfarbe oder ein anderes Mal komplett mit Pailletten besetzt und das bei einem vermeintlich einfachen Trenchcoat! Doch dieses Spiel mit dem Innenfutter bei Nehera gefällt Mauri und mir am besten. Es fügt sich spielerisch wie gekonnt in einen Business-Anzug wie man ihn dieses und kommendes Jahr tragen möchte (und lässt sich leicht wieder umknöpfen!).

Bei Saint Laurent hatten die Blazer mit XXL-Schulter nichts vom 'Powerdressing' der Achtzigerjahre. Die Looks, die mit ihren Pilotenbrillen und Bleistiftröcken durchaus an das Denver Clan-Jahrzehnt angelehnt sind, zeigen das Gegenteil auf. Sie sind geradezu lächerlich und werfen − auch rein modisch gesehen − die Frage auf: Wie sieht die Arbeitswelt von morgen aus? So jedenfalls nicht mehr. Ob dieser Denkanstoß Absicht des Designers war?

Eleganter, formvollendeter und zugleich cooler kann ein Smoking-Look nicht sein. Er ist Teil einer wieder so meisterhaften Kollektion von Chefdesigner Olivier Rousteing (deren vorherige Show ja etwas vom Modelauftritt von Cher überstrahlt wurde). Und anders als man hätte denken können (lauter Retro-Looks zu "My way") war es zum Glück nicht seine Abschlusskollektion nach 12 Jahren Balmain.

Um verkaufen zu können, müssen Modemarken vor allem Farben anbieten, in denen man sich wohl fühlt. Bislang bedeutete das, dass man nach frisch erholt/aus dem Urlaub kommend aussehen möchte. Doch das ist künftig vielleicht anders. Die 'vornehme Blässe' bekommt eine neue Bedeutung. Zwar hatte sie eine lange Vorbereitungszeit (Post-Solarium-Ära, hoher UV-Schutz statt Bräunungsöl). Aber nun kommt hinzu, dass man sich mit Fernreisen (drei Tonnen CO2 von Deutschland zu den Malediven und wieder zurück pro Person) nicht mehr brüsten möchte. Manche feiern den neuen Look als Heroin-Chic und tragen Scharz (Acne Studio). Andere halten sich lieber an andere blutsaugende Farben, wie jene von Farb- und Mustervirtuose Dries Van Noten.

Musstest Du eben kurz die Augen zusammenkneifen, um zu prüfen, ob es Deine Augen oder der Designer ist, der das Kleid so verschwimmen lässt? Schlechtes Sehvermögen nimmt zu und das wird in Zukunft noch schlimmer, sagt die WHO. Grund dafür sind die insgesamt immer länger werdenden Bildschirmzeiten. Chefdesigner Jonathan Anderson gelingt es, den Moment, in dem wir glauben zum Augenarzt gehen zu müssen, auf Stoff zu bannen... und es noch dazu sehr schön aussehen zu lassen.