Neues vom Beauty Pro: Porentief nachgefragt

Wann ist ein Lippenstift genderneutral?

Zur Zeit lanciert ein genderneutrales Make-up nach dem anderen. Aber was unterscheidet einen Lippenstift für Frauen von einem Lippenstift für jedes Geschlecht? Ist das alles nur Marketing oder ist da etwas dran?
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Dior Homme, Herbst/Winter 2021
Die Definition der Geschlechter per se habe ich verstanden. Es gibt cis-Frauen und cis-Männer. Das sind die, die sich mit dem in der Geburtsurkunde eingetragenen Geschlecht „männlich“ oder „weiblich“ identifizieren und eindeutig von sich sagen „Ich bin eine Frau“ oder „Ich bin ein Mann“. Neben diesen cis-Menschen, „cis-“ kommt übrigens aus dem Lateinischen und bedeutet auf dieser Seite, diesseits, binnen, innerhalb und ist damit das Gegenteil von trans-, auf der anderen Seite, über, hinüber... .
Also neben diesen cis-Menschen gibt es trans male/trans man (Trans-Mann, als Frau geboren, jetzt Mann) und trans female/trans woman (Trans-Frau, als Mann geboren, jetzt Frau), außerdem gender queer/gender non-conforming (geschlechtsneutral, ohne Geschlechterrolle) und schließlich noch different identities (andere Identität).

Männer-Schminke gibt es schon lange

Obwohl es Schminke für den Mann schon sehr, sehr lange gibt, waren alle PR-Kampagnen und Werbefilme, die in den letzten Jahrzehnten von Kosmetik-Firmen veröffentlich wurden, weiblich besetzt. Zielgruppe eindeutig: Frau zwischen 18 und 36 Jahren, gutes Einkommen und im Background einen Ehemann (es war immer ein Ehemann!), dessen Beauty-Einkäufe, sie gleich mit erledigte.
Vivien Westwood Herren Make-up Modepilot
Model bei der Show von Andreas Kronthaler für Vivienne, Westwood, Herbst/Winter 2019
Dabei ist die Verwendung von Schminke in keiner Weise traditionsgemäß weiblich besetzt. Tatsächlich waren Männer die ersten, die Kosmetik benutzten. Schon 4000 v. Chr. malten sich im alten Ägypten Herrscher und Mitglieder des Adels dramatisch schwarze Katzenaugen, weil sie damit ihren Wohlstand demonstrierten und auch glaubten, auf diese Weise den Göttern näher zu sein. Römer praktizierten Maniküre mit Schweineblut, und die Briten beschmierten sich zur Abschreckung mit blauer Farbe.
Ab dem 20. Jahrhundert galt für Männer die Verwendung von Make-up als grenzüberschreitend. Trotzdem gab es auch in dieser Zeit bemerkenswerte Ausnahmen. Unvergeßlich David Bowie, der durch die Kunst seines Visagisten Pierre La Roche zu Ziggy Stardust wurde. Oder Prince, den man ohne Make-up nicht in der Öffentlichkeit sah. 1982 veröffentlichte er sogar einen Song mit dem Namen 'Make-up'.
2003 lancierte Jean Paul Gaultier seine Make-up-Kollektion für Männer, die erste seiner Art. Mit „Le Mâle Tout Beau Tout Propre“ gab es Bräunungspuder, Lipgloss, Nagellack, Brauen- und Wimpern-Pflege, Concealer sowie Eyeliner für den Mann. Metrosexuell lautete das Schlagwort. Gaultier betonte damals ausdrücklich im deutschen Handelsblatt, dass seine Kosmetik keine Kosmetik für Schwule sei, sondern für den Business-Man, der mitten in seinem Karrierelauf steckte. Gaultier sagte: „Das ist wie bei einem gelungenen Fotoshooting. Männerkosmetik ist gut, wenn man sie nicht sieht.“

Neue Zielgruppendefinition

Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich damals den „männlichen“ Bräunungspuder mit Begeisterung verwendet habe, weil er das Gesicht nicht so penetrant terracottafarben bräunte wie die Frauenprodukte. Schade, dass die Linie ohne viel Aufhebens bald wieder aus den Parfümerien verschwunden ist. Offensichtlich war Monsieur Gaultier seiner Zeit weit voraus. Denn es dauerte mehr als eine Dekade, bis mehrere Kosmetiklinien speziell für Männer folgten.
Backstage bei Lacoste Modepilot
Genderneutrales Make-up? Backstage bei Lacoste
2015 brachten Harry und Peter Brant, die Model-Söhne von Supermodel Stephanie Seymour und Millionär Peter Brant, zusammen mit MAC eine Make-up-Linie auf den Markt mit drei Unisex-Produkten: ein Brauenstift, eine ausgleichende Creme-Farbe und eine Korrekturpalette. Seit 2018 gibt es von verschiedenen Luxusmarken Herrenkosmetik, darunter Chanel, Givenchy, Marc Jacobs und Tom Ford. Und die beiden US-Power-Marken CoverGirl und Anastasia Beverly Hills starteten bereits 2016 mit cis-Men-Kampagnen. Auch neue Beauty-Brands wie Panacea, Fluide oder Jecca Makeup setzen auf Genderneutralität und haben ihre Zielgruppen auch jenseits der cis-Frauen.

Unisex, genderneutral und eigentlich egal?

Was früher unisex hieß, ist heute demnach genderneutral, denn ein Make-up-Produkt kann und konnte schon immer von jedem benutzt werden, unabhängig davon, welchem Geschlecht er sich zuordnete. Schließlich verändert sich eine Lidschattenfarbe nicht, wenn sie von einem Mann benutzt wird und auch ein glänzender Lippenstift wird nicht plötzlich matt. Auch bei einem Parfum hat die eindeutige Geschlechter-Zuordnung ausgedient. Vielmehr geht es darum, ob die Inhaltsstoffe der eigenen Nase zusagen.
Männerdüfte, Frauendüfte, Sommer- und Winterdüfte − Das waren reine Marketing-Erfindungen, ohnehin begrenzt auf unseren Kulturkreis. Denkt man an die Länderunterschiede, sah es schon immer anders aus. Schwere und blumige Noten, die im Orient vorwiegend von Männern getragen wurden, galten bei uns als typisch weiblich. Vetiver war lange Zeit als typisch männliche Duftnote belegt, aber warum? Inzwischen gibt es auch sogenannte Frauen-Parfums mit Vetiver.
Andreas Kronthaler für Vivienne, Westwood, Herbst/Winter 2019
Model bei Andreas Kronthaler für Vivienne, Westwood, Herbst/Winter 2019

„Das Einkaufen von typischen Frauenprodukten schüchtert mich immer noch ein.“

Dass sich ein gender non-conforming Mensch beim Kauf von Make-up-Produkten oder einer Beratung in der Parfümerie besser aufgehoben fühlt, wenn das Objekt seines Interesses nicht ausgesprochen für die cis-Frau ausgelobt wird, ist verständlich. Jacob Tobia, amerikanischer Autor und Transgender-Aktivist, der für eine Kampagne der genderfreien Beauty Brand Fluide Model stand − mit Stoppelbart und roten Lippen zu langen, kunstvoll gewellten Glitterhaaren −, sagt: „Vergessen Sie, dass ich erwachsen geworden bin, denn das Einkaufen von typischen Frauenprodukten schüchtert mich immer noch ein. Jedes Mal, wenn ich in einen Sephora-Laden gehe, um einen Lippenstift zu kaufen, muss ich mich selbst ein wenig aufmuntern.“

Genderneutrales Make-up − mein Fazit

Seine Worte machen mir einiges klar. Bei einem genderfreien Lippenstift geht es weder um die Konsistenz noch um die Farbe. Das Produkt bleibt das Gleiche. Bei dem Wunsch nach Geschlechtsneutralität im Bereich Beauty geht es den Betroffenen vielmehr darum, dazu zu gehören und sich sicher zu fühlen. Diskriminierungsfreie Kosmetikprodukte trifft das Ganze vielleicht besser als genderneutrales Make-up. Aber im Endeffekt ist doch wieder alles nur Marketing. Denn ich finde, jeder kann und sollte kaufen dürfen wonach ihm der Sinn steht.
Mehr von unserer Autorin Margit Rüdiger lesen Sie jeden Freitag hier auf MODEPILOT.de – Ihre bisherigen Kolumnen gibt es hier >>> und mehr auf ihrem Blog Culture & Cream (>>>) Fragen, Wünsche, Feedback? Sie erreichen unsere Kolumnistin unter beautypro[@]modepilot.de
Photo Credit: Catwalkpictures
Modepilot ist Deutschlands erster Modeblog. Mit seiner Gründung in 2007 war und ist er Vorreiter der unabhängigen Mode-Berichterstattung. Noch heute wird die Seite leidenschaftlich von Mitgründerin Kathrin Bierling geführt. Sie ist eine ausgebildete und erfahrene Journalistin, die zunächst bei der Financial Times lernte und arbeitete und dann einige Jahre bei der WirtschaftsWoche beschäftigt war, bevor sie die Seiten Harpersbazaar.de, Elle.de und InStyle.de verantwortete. An Modepilot liebt sie, dass sie die Seite immer wieder neu erfinden muss, um am Puls der Zeit zu bleiben. Worin sie und ihre Autoren sich stets treu bleiben: Den Leser ernst nehmen, nicht sich selbst.

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